Lerntherapeutin Helke Voß-Becher führt mit Ihrem Kollegen Frank Tümmler das Lerncenter “Leno” in Niederolm bei Mainz. Sie unterstützen Kinder mit Legasthenie und LRS, besonders in den Fächern Englisch, Latein und Deutsch. Als Spieleverlegerin hat sie außerdem bereits das Lernspiel “TRIPLE Englisch” konzipiert und herausgebracht. Im Interview berichtet sie von ihrer Arbeit als Lerntherapeutin und gibt Tipps, wie es mit dem Vokabellernen bei Legasthenie besser klappt.
Liebe Helke, einmal in Kürze für alle, die mit dem Thema noch nicht in Berührung gekommen sind: Was ist Legasthenie?
Die Kinder haben, kurz gesagt, Schwierigkeiten beim Lesen und mit der Rechtschreibung. Was vielen aber nicht bewusst ist, dass noch mehr dazugehört. Ich würde dazu gerne die Definition für Legasthenie des britischen Legasthenieverbands zitieren: “Eine Legasthenie bedeutet nicht nur Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Es bedeutet auch Probleme bei der Informationsverarbeitung, bei der Informationsspeicherung und deren Wiedergabe. Das beeinträchtigt die Merkfähigkeit, die Verarbeitungsgeschwindigkeit, die Wahrnehmung von Zeit sowie das Strukturieren und Segmentieren von Information.”
Was vielen nicht bewusst ist: Legasthenie und LRS sind mehr als ein Problem mit der Rechtschreibung. Auch die Merkfähigkeit ist oft betroffen.
Das halte ich für ganz wichtig, dass diese Kinder nicht nur falsch schreiben und stockend lesen, sondern dass sie auch Merkschwierigkeiten haben. Diese Kinder sind keineswegs dumm oder von geringerer Intelligenz. Im Gegenteil, es gibt relativ viele Hochbegabte unter Legasthenikern. Aber sie haben eben nicht nur Probleme beim Lesen und Rechtschreiben, sondern auch häufig mit der Merkfähigkeit - und jetzt kann man sich vorstellen, was das für das Vokabellernen bedeutet.
Was sind denn die besonderen Herausforderungen für Kinder mit Legasthenie, wenn sie in der Schule Englisch lernen müssen?
Eine große Schwierigkeit ist die Rechtschreibung, denn wenn man genau hinguckt, ist die Rechtschreibung in Englisch katastrophal schwierig - mit Ausnahmen über Ausnahmen! Das heißt, die Rechtschreibung muss anfänglich Wort für Wort gemerkt werden und erst später schafft es das Unterbewusstsein tatsächlich, sich ein paar Regeln anzueignen. Wann lernt man die Rechtschreibung? Wenn man die Vokabeln lernt, ganz klar. Das funktioniert nur, wenn man einen sogenannten guten Wort-Bild-Speicher hat. Was bedeutet, man sieht das Wort und prägt es sich als Bild ein. Das fehlt ganz vielen Legasthenikern: Sie sehen das Wort nicht als Bild. Das bedeutet, wenn sie ein Wort schreiben sollen, haben viele große Probleme damit. Vokabellernen heißt ja, wir haben keine logische Hilfe. Wenn ich einen Tisch angucke, der schreit mir nicht "Tisch" oder "table" entgegen. Das heißt, ich muss wirklich ein Bild verknüpfen mit einem Klang und einer Schreibweise. Es ist ein Merkvorgang, was Kindern mit Legasthenie in Englisch natürlich wahnsinnig schwerfällt.
Wie kann ich als Bezugsperson oder Elternteil beim Vokabellernen unterstützen, wenn mein Kind Legasthenie hat?
Entscheidend ist, dass die Eltern zu Hause den Druck herausnehmen. Dass sie dem Kind nicht vermitteln, egal wie lange du hier sitzt und verzweifelst, du musst das hinkriegen - denn das führt zu Unlust und zu Verweigerung. Das machen auch kaum Eltern, die Bescheid wissen. Dann ist es wichtig ein Zeitlimit zu setzen. Wenn das ausufert, und das ufert ja häufig aus, dann muss ein Gespräch mit den Lehrern geführt werden. Die Lehrer wissen oft gar nicht, wie lange die Kinder zu Hause sitzen. Das kann man Kindern nicht zumuten.
Das Wichtigste: Ersteinmal den Druck rausnehmen, Zeitlimits bei den Hausaufgaben setzen und mit Lehrkräften sprechen.
Schließlich ist es natürlich schön, wenn man dem Kind vermittelt, ich kann dir helfen, ich will dir helfen und lass uns ein bisschen Spaß dabei haben. Immer vorausgesetzt, die Eltern haben die Zeit oder die Geduld, das ist nicht immer so. Dann braucht es natürlich auch externe Hilfen, da kommen wir noch dazu. Das kann so aussehen, dass viele Pausen gemacht werden. Die Pausen sollten irgendwas beinhalten, worüber das Kind sich freut, was auch immer das sein kann. Dann gibt es natürlich auch Orte, wo man toll lernen kann. Ich hab in meinem Therapieraum eine Hängematte. Normal sage ich den Kindern, wir können hier nicht eine Dreiviertelstunde Vokabeln lernen, denn dann fällt alles andere flach. Aber natürlich gibt es mal so Situationen, wo ich sag, also komm, wenn die Vokabeln noch nicht sitzen und du schreibst morgen eine Vokabelarbeit, dann schieben wir jetzt eine Stunde dafür ein. Dann sitzt das Kind in der Hängematte, schaukelt gemütlich vor sich hin und wir gucken, wie wir die Vokabeln in den Kopf kriegen. Es gibt so kleine Dinge, die wirklich einen riesigen Unterschied machen können.

Unser Vokabeltrainer, die cabuu-App, wird mittlerweile öfters für Betroffene von Legasthenie empfohlen. Du hast sie ja auch ausprobiert, was denkst du, ist der Grund dafür?
Besonders die Jüngeren finden die App großartig. Sie sehen ein Bild, das ist schon mal toll. Sie machen selbst eine Bewegung mit dem Finger und haben die Möglichkeit zu sehen, zu hören, zu lesen, zu gucken. Das ist beim Vokabellernen natürlich ideal! Je mehr Sinne beteiligt sind, desto besser. Die Eltern finden toll, dass man die Vokabeln einscannen kann. Denn in der fünften und sechsten Klasse, sind es meist noch die Eltern, die gucken, was gelernt werden muss. Die sind natürlich heilfroh, dass das Scannen dabei ist.
Es freut uns sehr, dass die cabuu-App gut ankommt. Es ist wirklich wichtig, nicht nur bei Menschen mit Legasthenie, dass möglichst viele Sinne eingebunden werden. So lernt man deutlich besser, als wenn man nur aus dem Vokabelheft oder Schulbuch lernt.
Ja, denn was hat man im Buch? Man hat Schrift und Schrift. Wenn Legasthenie ein Problem mit Schrift ist, dann ist das die ungeeignetste Methode, die es gibt. Insofern ist es schonmal gut, dass jedes online Lernen und die meisten online Programme das Hören miteinbeziehen. Wenn dann noch Sprechen und Bewegung dazukommt, dann ist das kaum zu toppen. Es ist ja auch nicht immer jemand dabei, der die Aussprache genau kennt: Nicht alle Eltern sprechen fließend Englisch. Da kann man sich dann auf Apps und Vokabellernprogramme verlassen. Ich finde es nur wichtig, dass jemand dabei ist, der mit dem Kind zusammen einsteigt. Es ist gut, wenn der Anfang begleitet wird.

Hast du Tipps, wie man es schafft am Vokabellernen von Anfang an dranzubleiben?
- Mein erster Tipp lautet: Lernt regelmäßig Vokabeln! Lernt sie auch, wenn die Lehrkraft sie nicht explizit aufgegeben hat, wenn man beispielsweise einen neuen Text im Unterricht behandelt hat. Wenn ihr eine neue Lektion anfangt, nehmt euch hinten die Vokabeln vor. Dann ist vor dem Vokabeltest nur noch ein Wiederholen dran, und kein neues Lernen. Fünf bis sieben Vokabeln täglich sind eine gute Menge. Falls es mal mehr sein müssen, sollte man die Vokabeln über den Tag verteilt in Blöcken lernen.
- Der zweite Tipp: Achtet darauf, wo das Kind in der Klasse sitzt. Es ist gut, wenn Kinder, gerade mit Legasthenie, wenig Ablenkung haben. Wenn die zwar neben dem besten Freund sitzen, aber die die ganze Zeit miteinander quatschen, dann ist das hinderlich. Es ist auf jeden Fall eine riesige Zeitersparnis für den Nachmittag, wenn man im Unterricht einigermaßen aufpasst.
- Ein anderer Tipp Vokabeln zu lernen ist das Visualieren. Das kommt gerade Kindern entgegen, die gerne mit Bildern arbeiten. Sie machen es sich bei mir in der Hängematte bequem und schließen die Augen. Dann nenne ich ein deutsches Wort, nehmen wir das Beispiel "Feld" und sag, stell dir ein schönes Feld vor. Anschließend spreche ich die englische Vokabel “field” vor. Das Kind wiederholt dann, mit dem Bild im Kopf, die Vokabel.
- Der letzte Tipp ist für alle, die den Faden beim Vokabellernen verloren haben und nicht wissen, wo sie zum Wiederholen anfangen sollen. Man findet im Internet Vokabellisten, wo Wörter nach der Häufigkeit gelistet sind. Nehmt euch die Liste, schreibt das deutsche Wort selbst daneben, wenn ihr es nicht kennt, schlagt es nach und macht vielleicht noch einen Satz dazu. Wenn ihr die ersten 500 Vokabeln davon gelernt habt, dann könnt ihr drei Viertel aller Texte lesen. Das klingt zwar erstmal nach vielen Vokabeln, aber ist es eigentlich gar nicht, weil man viele davon bereits kennt.
Super, danke für die Tipps! Als Lerntherapeutin unterstützt du nicht nur Kinder beim Lernen, sondern stehst auch im Kontakt mit Eltern und Lehrkräften. Erzähl uns doch mal, wie deine Arbeit abläuft.
Es gibt Fälle, wo eine Legasthenie vermutet wird, aber noch nicht diagnostiziert wurde. Dann frag ich erstmal nach, was genau die Vermutung unterstützt und bitte die Eltern im Vorfeld Hefte mitzubringen, damit ich mir das anzuschauen kann. Ich rede mit dem Kind und frag die Eltern, wie lange es zu Hause sitzt, um eine bestimmte Menge zu erledigen. Die Diagnose selbst führt anschließend ein speziell ausgebildeter Arzt, Psychiater oder Psychologe durch. Entweder wir fangen da schon parallel an mit dem Kind zu arbeiten oder warten die Diagnose noch ab.
Sehr wichtig ist die psychologische Begleitung, für die Eltern und Kinder. Das Selbstbewusstsein aufbauen und Mut machen: Es wird besser werden!
Bei einer diagnostizierten Legasthenie ist das Wichtigste erstmal eine gewisse psychologische Begleitung, für die Eltern, aber auch für die Kinder. Wir bitten die Eltern immer, den Druck rauszunehmen und das Kind aufzufangen. Dann ist es wichtig, mit dem Kind zu reden, was ihm besonders schwerfällt und wie es ihm damit geht, das Selbstbewusstsein aufzubauen und zu stärken: Okay, du hast hier Probleme, erkenne es erstmal an, aber es ist nicht schlimm, denn es wird besser werden. Wir arbeiten schulbegleitend im Einzelunterricht, so können wir viel mehr nachfragen und den Problemen auf dem Grund gehen. Das heißt, wir können versuchen, den Lernstoff so zu systematisieren, damit das Kind es besser verstehen kann. Währenddessen ist es immer wichtig, die psychische Verfassung im Blick zu haben und das Kind aufzubauen.

Neben dieser fachlichen Betreuung gehst du auch in den Dialog mit den Eltern und Lehrkräften. Wie sieht das konkret aus?
Ich unterstütze die Eltern dabei, dass das Kind auch in der Schule die Hilfe bekommt, die ihm zusteht. Denn wenn diese Kinder am Anfang ein Wort nicht richtig schreiben können, dann braucht genau dieses Kind einen Nachteilsausgleich. Nachteilsausgleich heißt, ein Kind, bei dem eine Legasthenie diagnostiziert wurde, hat das Recht bestimmte zusätzliche Hilfen zu bekommen oder Erleichterungen zu erhalten. Da ist auch bei Lehrkräften manchmal noch Aufklärungsarbeit nötig und da sind Kompromisse wichtig - in Zusammenarbeit mit den Eltern und der Schule ist das eine gemeinsame Unterstützung für das Kind.
Da sieht man, wie wertvoll die Arbeit von Lerntherapeut*innen ist: Ihr seid Ansprechpartner sowohl fürs Kind, als auch für die Eltern und sorgt dafür, dass ein Dialog mit der Schule geführt wird.
Und das Schöne ist auch, wenn wir unsere Arbeit gut machen, freut sich jeder: Wir machen die Eltern glücklich, wir machen das Kind glücklich, wir machen die Schule oder die Lehrkräfte glücklich. Das ist toll.
Liebe Helke, danke für deine ganzen Einsichten in deine Arbeit als Lerntherapeutin und zum Thema Legasthenie!
Das Interview könnt ihr euch auch auf Youtube ansehen. Hier findet ihr außerdem mehr Infos zu Helke Voß-Becher und Leno.