Herr Dr. Ebert, Sie haben 2015 Ihren sicheren Job an der Universität aufgegeben, um mit Ihrem Start-Up cabuu eine Vokabel-App zu entwickeln. Was treibt Sie an?
In der Sprachforschung tut sich sehr viel, aber leider kommt davon nur wenig im Schulalltag an. Dabei würden diese Erkenntnisse enorm beim Lernen helfen! Die Vision, solche Erkenntnisse in einer zeitgemäßen Form zugänglich zu machen, hat mich einfach nicht losgelassen. Ich stand dann vor den Optionen meine Stelle an der Uni Tübingen verlängern zu lassen oder doch eine Gründung zu wagen - und habe mich dann für die Gründung entschieden.
Welche Erkenntnisse genau waren das?
Es hat sich mittlerweile rumgesprochen, dass man besser lernt, wenn mehrere Sinne aktiviert werden. Was aber noch weitestgehend unbekannt ist, ist das Lernen mit Gesten, obwohl diese Lernmethode hervorragend untersucht und belegt ist. Wir waren begeistert von der Effektivität und es war schnell klar, dass man das unbedingt zum Vokabellernen einsetzen muss - aber wie stand damals noch in den Sternen.
Wie funktioniert das genau, mit Gesten lernen?
Eine Geste ist ja eine Bewegung der Arme oder Hände, die im Normalfall eine Handlung, eine Eigenschaft oder einen Gegenstand verdeutlicht oder darstellt. Wenn ich beispielsweise das Vokabelpaar “winken" - "to wave” lernen möchte, dann winke ich dazu. Im Gehirn werden dann mehr Areale stimuliert, als wenn ich das Wort nur auf der Karteikarte anschaue. Wenn man dieses Lernen mit Gesten jetzt noch mit Lernmethoden kombiniert, die verschiedene Sinne ansprechen, wird es richtig effektiv. Genau das haben wir mit der cabuu-App umgesetzt.
Warum prägt man sich die Vokabeln dann besser ein?
Wenn ich das Wort “winken” höre, dann sind im Gehirn erstaunlicherweise Hirnregionen aktiv, die sich um die Ausführung einer Wink-Bewegung kümmern. Das Gehirn bereitet sich also darauf vor, dass ich die Hand hebe und hin- und her bewege, obwohl ich das Wort nur gehört habe. Diese neuronale Verknüpfung zwischen Sprachverstehen und Handlung nutzt man beim gestischen Vokabellernen. Es werden dadurch mehr Gehirnareale aktiviert und deswegen prägen wir uns die Vokabel viel schneller und länger ein als beim klassischen Lernen mit Karteikarten - das haben viele Studien belegt. Ein weiterer Faktor könnte der sogenannte Enactment Effekt sein: Wenn ich etwas selbst mache und durchführe, präge ich es mir besser ein, als wenn ich nur darüber lese oder mir ein Bild anschaue.
Sollten wir also im Unterricht wild herum gestikulieren?
Das wäre gar nicht verkehrt! Es würde sogar schon helfen, wenn der Lehrer ein paar Gesten vormacht. Denn man muss die Geste nicht unbedingt selbst ausführen, um signifikante Lernverbesserungen zu beobachten. Es hat schon einen positiven Effekt, wenn man jemandem dabei zuschaut. Aber klar, ab einer gewissen Klassenstufe kommen sich die Schüler vielleicht albern vor. Und dann werden Vokabeln sowieso nicht mehr im Unterricht besprochen - das muss man dann selbst zu Hause machen. Deshalb haben wir das Lernen mit Gesten ganz einfach in einer App verpackt.
Wie läuft das Vokabellernen in der App genau ab?
Unser Lernroboter Bo macht bei jeder Vokabel eine Geste vor und der Benutzer fährt sie mit dem Finger auf dem Touchscreen nach. Das Wort wird außerdem vorgesprochen und mit von einer Animation dargestellt - eine gute Mischung, um zusätzliche Sinne anzusprechen. Man kann eigene Vokabellisten anlegen und die App erstellt auch einen Lernplan bis zum Vokabeltest, damit man weiß, wieviel man täglich lernen sollte.
Viele sagen, dass man gar nicht merkt, dass man Vokabeln lernt - meine eigenen Kinder nennen es zum Beispiel "mit dem Roboter spielen".
Es gibt schon zahlreiche Apps zum Vokabel- und Sprachenlernen. Warum ist cabuu anders?
Das stimmt, da gibt es schon eine große Auswahl an Vokabeltrainern und Apps. Die meisten bauen auf dem bewährten Karteikartensystem auf. Das ist natürlich nicht schlecht, aber wir wollten das Potential von Smartphones und Tablets wirklich ausschöpfen. Wir nutzen beispielsweise den Touchscreen aktiv für den Lernprozess, da der Nutzer darauf die Fingergesten ausführen muss. Währenddessen läuft im Hintergrund ein komplexer Algorithmus, der sich dem Lernverhalten des Nutzers individuell anpasst. Die App wird also immer smarter, je länger man sie benutzt. Das Letzte ist, ich nenne es einfach mal so, der cabuu-Lernstyle. Das muss man einfach selbst ausprobieren und erleben. Viele sagen, dass man gar nicht merkt, dass man Vokabeln lernt - meine eigenen Kinder nennen es zum Beispiel "mit dem Roboter spielen".
Aber was ist die App jetzt genau - Lernhilfe oder Spiel?
Wir haben da eine interessante Mischform gefunden: Die App ist kein klassischer Vokabeltrainer, der Wörter nach dem Karteikastenprinzip ins Gehirn hämmert. Sie ist allerdings auch kein reines Lernspiel, denn es gibt eigentlich keine Spielelemente. Wir haben aber viel Zeit in Animationen und den Look der App investiert, damit das Lernen abwechslungsreich bleibt. Man könnte sie wohl am ehesten als eine wissenschaftlich fundierte und effektive Lernhilfe bezeichnen, mit der Vokabellernen Spaß macht.
Und wie bekomme ich die Vokabeln, die ich lernen muss, in die App?
Die Schüler können selbst ihre Vokabeln eintragen und Vokabellisten zusammenstellen. Mit dem Langenscheidt-Wörterbuch haben wir eine riesige Datenbank an Wörtern, die Vorschläge macht und bei der Eingabe unterstützt. Wer sich das Tippen sparen will, nutzt einfach die Scan-Funktion: Mit der Handykamera lassen sich gedruckte Listen in die App übertragen. Außerdem haben wir einige Vokabellisten zu verschiedensten Themen zusammengestellt, die man sich gratis herunterladen kann.
Viele haben Vorbehalte gegen den Einzug von Tablets und Smartphones im Unterricht. Kann man damit überhaupt konzentriert lernen?
Generell kann das Lernen mit den neuen digitalen Möglichkeiten viel individueller gestaltet werden. Das ist eine große Chance, die man nicht so schnell abtun sollte! Unser Ziel mit der cabuu-App war es auch zu zeigen, wie zeitgemäßes Vokabellernen aussehen könnte. Man liest nicht nur Karteikarten ab, sondern setzt alle Sinne ein und man wird dabei von einem smarten Algorithmus im Hintergrund unterstützt. Auch offline kann man weiterlernen, dann hat man keine Ablenkung durch Nachrichten. Es kommt wirklich darauf an, wie ein Medium verwendet wird und da tasten sich Schulen erst noch heran. Smartphones und Tablets haben aber ein enormes Potential und ich bin zuversichtlich, dass sich das noch entwickeln wird.
Fest steht jedenfalls, dass wir vor einer digitalen Revolution stehen und uns unbedingt Gedanken machen müssen, wie wir das bewährte aus dem Analogen retten und das Neue aus dem Digitalen nutzen können.
Wie werden wir in Zukunft Vokabeln lernen?
Bei unserem Messestand auf der Bildungsmesse didacta 2019 in Köln kamen viele Lehrer auf uns zu, die dringend nach digitale Lösungen wie unserer App für den Unterricht suchen. Leider sind die technischen Voraussetzungen aber oft noch nicht da, von rechtlichen Aspekten und Datenschutz mal ganz abgesehen. Momentan ist die Lernwelt im Umbruch und das Digitale muss sich erst noch etablieren. Rein analog wird es sicher nicht bleiben, dafür nutzen zu viele Schüler schon Apps und Lerntools und merken, dass man damit besser voran kommt. Fest steht jedenfalls, dass wir vor einer digitalen Revolution stehen und uns unbedingt Gedanken machen müssen, wie wir das bewährte aus dem Analogen retten und das Neue aus dem Digitalen nutzen können.
Was ist noch geplant bei cabuu?
Nächstes Jahr wird die cabuu-App für weitere Sprachen wie Französisch und Latein erhältlich sein. Langfristig gibt es auch schon Konzepte für weitere Nutzergruppen. Von der Methode kann auch jemand profitieren, der für die berufliche Weiterbildung Fachbegriffe lernen muss. Das ist der Vorteil des gestischen Lernens: es ist universell einsetzbar und kann bei verschiedensten Zielgruppen erfolgreich angewendet werden. Das entspricht auch meinen Wunsch, diese wunderbare Methode des Lernens so vielen wie möglich zugänglich zu machen.